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Aus: Ausgabe vom 27.08.2025, Seite 2 / Inland
Sozialstaatsdebatte

»Es droht eine neoliberale Restauration«

Bundesregierung bereitet soziale Kahlschläge vor. Von SPD kaum Gegenwehr zu erwarten: Klingbeil will »den Schröder machen«. Ein Gespräch mit Christoph Butterwegge
Interview: Gitta Düperthal
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Prosit für Profiteure: CSU-Chef Markus Söder und CDU-Vorsitzender Friedrich Merz (CDU) in Feierlaune (Brilon, 19.1.2025)

Bundeskanzler Friedrich Merz sagte beim Landesparteitag der Niedersachsen-CDU am Sonnabend: »Der Sozialstaat, wie wir ihn heute haben, ist mit dem, was wir volkswirtschaftlich leisten, nicht mehr finanzierbar.« Was droht mit solchen Ansagen?

Wird der Rüstungshaushalt bis 2029, während die Union und SPD regieren, wie geplant verdreifacht, hat er damit recht. Die gesellschaftspolitische Alternative lautet: Rüstungs- oder Sozialstaat. Lenkt die Bundesregierung die Ressourcen stark ins Militärische um, bleibt für Soziales, Bildung und Kultur wenig übrig. Merz stellt sich eine Blackrock-Republik vor, wie er sie in seinem auf dem Höhepunkt der Finanzkrise 2008 erschienenen Buch »Mehr Kapitalismus wagen« skizzierte. Um sie umzusetzen, hat er ein günstiges mentales Umfeld. Jetzt schon herrscht soziale Eiseskälte vor, wird Stimmung gegen den Sozialstaat gemacht: Den Armen gehe es zu gut, Geflüchtete oder Bürgergeldbezieher lebten in Saus und Braus; Reiche müssten stärker unterstützt werden, sei es durch Steuersenkungen oder staatliche Subventionen.

CSU-Chef Markus Söder ätzte in Bild, SPD-Bundesfinanzminister Lars Klingbeil müsse Milliarden bei Asyl, Bürgergeld, Rente, Krankenversicherungen einsparen. Wie ernst ist diese Kampagne?

Mich erinnert sie an die neoliberale Großoffensive an der Jahrtausendwende, als man den Sozialstaat mit der Riester-Reform und den Hartz-Gesetzen schleifte. Dabei braucht man ihn angesichts einer noch stärker entgrenzten Wirtschaft als Fundament. Haben Menschen keine soziale Sicherheit, können sie weder heute in Kiel und morgen in Konstanz arbeiten, noch demnächst in New York oder Tokio. Schwindet der gesellschaftliche Zusammenhalt, weil die Menschen um ihre soziale Sicherung fürchten, kann eine Volkswirtschaft nicht erfolgreich sein. Auch wenn Exwirtschaftsanwalt Merz, CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann und Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche sie alle paar Tage auffordern, mehr zu arbeiten. Das tut niemand, wenn die Arbeits- und Lebensbedingungen verschlechtert werden, etwa die Krankenhausbehandlung oder die Pflege im Alter.

Wird also fortgesetzt, was Anfang der 2000er Jahre unter SPD-Kanzler Gerhard Schröder mit Hartz IV begonnen wurde?

Mit der »neuen Grundsicherung« und womöglich noch härteren Sanktionen als bei ihrem Vorbild wird Hartz V eingeführt – und wie damals versucht, Arbeitende gegen Erwerbslose auszuspielen. Beschäftigten, die nach dem Arbeitslosengeld keine angemessene Grundsicherung erhalten, raubt man ihre Zukunftsperspektive.

»Sozialdemokraten wollen Merz-Reform-Ansage nicht überbewerten«, titelte die Presseagentur dpa.

So zu tun, als wäre all das nur Gerede, heißt, die Gefahren zu unterschätzen und den Widerstand zu schwächen. 1848/1849 gab es in Deutschland die bürgerlich-demokratische Märzrevolution; heute droht eine neoliberale Merz-Restauration, die sozialpolitisch das Gegenteil erreichen will: zurück in jene Zeit, als die Armen auf Almosen angewiesen waren. Von der SPD ist nur wenig Gegenwehr zu erwarten, weil Lars Klingbeil »den Schröder machen«, den Wirtschaftsstandort Deutschland über alles stellen wird.

Gegen Hartz IV hatte sich mit dem Druck an der Basis Widerstand der Gewerkschaften entwickelt. Sehen Sie heute Ansätze dazu?

Unter der Vorsitzenden Yasmin Fahimi akzeptiert der DGB – sozialpartnerschaftlich statt kämpferisch orientiert – fast alles, was aus Regierungskreisen kommt. Ein von der Kapitalseite geforderter Abbau des Sozialstaates lässt sich so nicht verhindern. Die Linke ist zwar gestärkt aus der Bundestagswahl hervorgegangen, wäre aber auf Unterstützung von Gewerkschaften, Kirchen und Wohlfahrtsverbänden angewiesen.

Ist die Gesellschaft zu erschöpft und gespalten?

Resignation ist keine Lösung, wenn das Schlimmste verhindert werden soll. Ich halte es da lieber mit der Erkenntnis von Bertolt Brecht: »Wer kämpft, kann verlieren; wer nicht kämpft, hat schon verloren.« Das gigantische Aufrüstungsprogramm der Bundesregierung muss energisch bekämpft, die demokratische Frage mit der sozialen, und die mit der Friedensfrage verknüpft werden.

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  • Leserbrief von Leo Pixa (26. August 2025 um 21:48 Uhr)
    Es ist erschreckend, dass der DGB mit seinen Forderungen den Zerstörern des Sozialstaats keine Knüppel zwischen die Beine wirft, sondern auch jetzt wieder mit dem Aufruf zum 1. September (Antikriegstag) der Aufrüstung das Wort redet. Das bedeutet nun mal, Steigbügelhalter für den grausamen Sozialabbau zu sein. Und wo bleibt der Aufschrei der Gewerkschaftsbasis?

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